Vor zwei Wochen stand ein erstes Frühjahrs-Highlight in meinem Kalender: die sogenannte „one-way Radfernfahrt Berlin–Leipzig“. In diesem Jahr ging es in umgekehrter Richtung von Leipzig nach Potsdam. Die Fahrtrichtung nach Nordnordost verspricht an den meisten Tagen des Jahres einen angenehmen Schiebewind. Nicht so dieses Mal. In der Wettervorhersage hielt der Windpfeil eisern seine Position entgegen der Fahrtrichtung. Nur die Windstärke (oder sollte es heißen: Sturmstärke?) änderte sich täglich. Natürlich nach oben.
Es wurde ein Samstag mit langen 217 Kilometern. Und mit viel Zeit, über Gegenwind zu sinnieren.
Kräftig in die Pedale treten: Fahrradfahren bei Gegenwind ist anstrengend und oft eintönig (Symbolbild)
Frans Lemmens / Getty Images
Ich finde Wind tückisch. Starte ich gegen den Wind, kann es durchaus sein, dass er dreht, sobald ich auf dem Rückweg bin. Im Norden sagen sie gern: „Der Wind ist mein Berg.“ Aber fährt man einen Pass hoch, lässt sich das wenigstens messen und vergleichen. Die zugehörigen Höhenmeter stehen schwarz-weiß auf dem Papier, für jedermann nachvollziehbar. Erzähle ich, dass ich neun Stunden gegen den Wind geradelt bin, winkt man müde ab. Kennt man. Aber 25 km/h Windgeschwindigkeit oder 50, wer hat den Unterschied wirklich im Gefühl?
Dabei ist wenig so unauffällig und gleichzeitig so verheerend für den radelnden Menschen wie der Wind. Die Radbloggerin und -enthusiastin Carolyn Ott-Friesl schrieb noch am Tag vor meiner Fernfahrt auf dem sozialen Netzwerk Blue Sky: „Ich bei Rückenwind: Vielleicht sollte ich noch bei der Zwift Academy mitmachen und versuchen, Profi zu werden. Ich bei Gegenwind: Ich bin dieses Sportgeräts unwürdig.“
Auf den stürmischen 217 Kilometern zwischen Leipzig und Potsdam hat mich dieser treffende Ausspruch immerhin bei guter Laune gehalten.
Hier ein paar weitere Gedanken und Taktiken, die mir im Ringen mit dem Gegenwind helfen:
Go with the Flow
Es hat etwas Meditatives, mich und meine Geschwindigkeit dem An- und Abschwellen der Luftströmung zu überlassen. Nur so zu pedalieren, wie es gerade möglich ist. Mich mit der jeweiligen Gangart abzufinden. Dann dauert es eben länger als sonst, diese lange Ebene vor mir zu durchmessen.
Auf dem Navi zoome ich dann die Ansicht hoch, damit sich der Pfeil auf der Linie wenigstens etwas bewegt. Und wenn ich in der Böe hänge, akzeptiere ich, dass es gerade nur sehr langsam vorangeht. Irgendwann geht auch dem stärksten Windstoß die Luft aus. Und dann bin ich vielleicht schon näher an dieser Baumgruppe dort vorn und genieße eine kurze Verschnaufpause.
Die Verpflegung im Blick
Normalerweise esse ich im Flachland gemäß der zurückgelegten Kilometer. Stecke ich im Wind fest, komme ich weniger gut voran, und zugleich ist es anstrengender. Ich muss also umschalten und mich früher verpflegen, wenn ich mich nicht leerfahren möchte – was sich im Wind doppelt rächen wird, da auch die kommenden Kilometer anstrengender sein werden als sonst. Das gilt für die Aufnahme von Kalorien und Flüssigkeit gleichermaßen.
Ackern oder Energiesparmodus
Gegen starken Wind zu fahren, fühlt sich für mich mitunter ähnlich an wie ein Projekt, in das ich viel Arbeit stecke und trotzdem nicht das Ergebnis erreiche, das ich mir gewünscht hätte. Das ist auf gleich zwei Dimensionen enttäuschend: Ich habe viel Aufwand betrieben. Und das Erfolgserlebnis bleibt aus.
Im Arbeitsleben versuche ich vorab zu entscheiden, welchen Weg ich einschlage: Entweder ich hänge mich rein und bin dann auch mit dem Ergebnis zufrieden. Oder ich erledige die Aufgaben mit minimalem Einsatz und hege keine große Erwartung an das Ergebnis.
So ähnlich ist es mit dem Fahren gegen starken Wind. Wenn ich geackert habe, kann ich stolz sein auf meinen Schnitt – egal, wie niedrig er ist. Oder ich radele im Sparmodus und freue mich, dass für das restliche Wochenende noch Energie übrig ist.
Wind statt Berge
Wind als Herausforderung und besonderes Training zu begreifen, empfinde ich als fortgeschrittene Version der Umdeutung. Ich bin meistens dankbar, wenn der Wind direkt von vorn kommt, weil mir stumpf dagegen anzutreten einfacher erscheint, als laufend das Rad gerade zu halten.
Zusätzlich konzentriere ich mich darauf, was der Wind mit der Umgebung macht. Neue Wolkenformationen und Weizenfelder, die aussehen wie in eine Richtung gebügelt, sind an Windtagen besondere Erlebnisse. Oder, wie bei meiner Fahrt nach Potsdam, die aufgepeitschte Oberfläche des Schwielowsee bei Potsdam, der in diesem Moment wie ein Küstenstreifen bei Sturm anmutete und den krönenden Abschluss eines langen Tages bildete.
Was waren Ihre schaurig-schönsten Erlebnisse im Wind? Schreiben Sie mir gern.
Ich wünsche Ihnen ein windstilles Wochenende
Ihre Eva Ullrich
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